Musikpädagogische Grundfragen

Frauke Heß

Ästhetisch-künstlerische Bildungsangebote
In der bildungspolitischen Diskussion gibt es seit Beginn des 21.Jahrhunderts großes Interesse an ästhetischem Lernen und Projektarbeit in diesem Bereich. Dies zeigt stellvertretend für viele andere Initiativen das groß angelegte Projekt „Jedem Kind ein Instrument“. Die Gründe für dieses Interesse sind vielgestaltig. Zum einen führt die Stärkung der sogenannten Hauptfächer (insbesondere des Deutschunterrichts, der Naturwissenschaften und Fremdsprachen) als Reaktion auf die frühen PISA-Ergebnisse zu einer für alle Beteiligten deutlich wahrnehmbaren Steigerung der Arbeitsbelastung der Schüler_innen. Die ästhetischen Fächer sowie außerunterrichtliche Angebote in Musik, Kunst und Sport sollen hierzu einen Ausgleich schaffen. Zum anderen spiegelt die neue Aufmerksamkeit für künstlerisch-ästhetische Aktivitäten den Glauben an Transfereffekte wider. D.h., es wird davon ausgegangen, dass ein Kind, das ein Instrument erlernt, dadurch z.B. auch soziale und kognitive Schlüsselkompetenzen ausbildet.

Dass die Auseinandersetzung mit Musik solche Wirkungen zeitigen kann, dürfte unbestritten sein, daher begrüßt die Musikpädagogik die Vielzahl und Vielfältigkeit entsprechender Angebote. Neben der Ausgleichsfunktion und dem Erwerb von Schlüsselkompetenzen muss in der musikpädagogischen Arbeit aber vor allem das Ästhetische an sich betont werden, da dieses einen nicht durch andere Zugänge zu ersetzenden Eigenwert hat.

Der Eigenwert des Ästhetischen
Die Überzeugung, dass das Ästhetische für die Bildung einen Eigenwert hat, basiert auf einer anthropologischen Prämisse: Neben der theoretischen und praktischen Vernunft, über die ein Mensch verfügt und die in Bildungsprozessen geschult werden sollen, existiert eine ästhetische Rationalität, die es gleichermaßen auszubilden gilt, um von einer ganzheitlich gebildeten Persönlichkeit sprechen zu können. Gerade der spezifisch ästhetische Weltzugang bietet einen wichtigen Beitrag für ein „gelingendes Leben“.
An einem anschaulichen Beispiel soll dieses zunächst sehr abstrakt klingende Bildungsverständnis erläutert werden:
Beobachtet man etwa jemanden, der abends am Strand steht und auf das Meer hinausblickt, so lässt sich nicht sagen, was in diesem Menschen vorgeht. Mir ist es von außen nicht möglich zu erkennen, in welcher Wahrnehmungseinstellung er die Natur betrachtet: Fragt er sich, ob der Seegang eine Bootsfahrt zulässt (und bemüht somit seine praktische Vernunft), berechnet er die Korrelationen zwischen Wind und Wellengang (theoretische Vernunft) oder erfreut er sich völlig zweckfrei am Farbenspiel der untergehenden Sonne im Meer (ästhetische Vernunft). Über all diese Weltzugänge verfügt der Mensch gleichermaßen.
Eine in der Begegnung mit Natur oder Kunst spontan einsetzende Begeisterung oder Ergriffenheit, die sich nicht selten in einem „Oh, ist das schön“ ausdrückt, zeugen z.B. von einem sinnlichen Zugang zu Welt.
Ausgehend von dieser Überzeugung, dass der Mensch die Fähigkeit hat, die Welt unter ästhetischen Gesichtspunkten wahrzunehmen sowie zu gestalten, muss es im Sinne der Persönlichkeitsbildung Aufgabe der Musik- und auch Kunstpädagogik sein, diese Fähigkeit anzusprechen und auszubilden.

Umsetzung im Projekt neue töne für junge ohren
Das Projekt leistet einen Beitrag zum Konzept der ästhetisch-musikalischen Bildung im skizzierten Sinne. Dazu arbeiten die Komponistin Christine Weghoff und der Musiker Olaf Pyras projektartig mehrere Wochen in Klassen unterschiedlicher Altersstufen. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern werden musikalische Erfindungsprozesse durchlaufen, die zumeist bei der Klangforschung beginnen (bewusstes ästhetisches Wahrnehmen), um dann in Gestaltungsprozesse einzumünden. In dem Gestaltungsprozess erfinden die Kinder und Jugendlichen nicht nur Musik, sondern reflektieren das Gefundene auch, um letztlich zu einem Musikstück zu gelangen, das ästhetischen Qualitätskriterien standhalten kann – und zwar den Maßstäben, die am konkreten Material entwickelt und verbalisiert sowie in der Gruppe diskutiert wurden. Es geht nicht um vorgefundene Regeln oder konventionelle “Schönheitskonzepte”, sondern um die diskursive Auseinandersetzung mit Wahrnehmbarem. Die Schüler_innen lernen im eigenen Agieren und Reflektieren, dass nicht alles gleich gut ist.
Damit leitet das Projekt an, einerseits differenzierter zu hören und andererseits individuelles Kreativitätspotenzial auszuschöpfen. neue töne für junge ohren schult zugleich das Wahrnehmen als auch ästhetisch-strukturelle Denken sowie eine kognitive Beschäftigung mit sinnlichen Phänomenen.

Im Projekt gibt es also keine vorgegebenen Kompositionen, die mit den Kindern und Jugendlichen musiziert werden, sondern es geht um die Gestaltung eigener Stücke.

Einblick in die konkrete Arbeit
Gleichermaßen interessant für schulische und außerschulische Musikpädagogik ist die Fragestellung, wie individuelle Erfindungsprozesse initiiert und begleitet werden können. Widerspricht die notwendige Subjektivität und Eigenaktivität nicht geradezu einer Verortung in pädagogischen Kontexten? Dieses Dilemma spitzte der Erziehungswissenschaftler Klaus Mollenhauer einmal in dem Bild des „Sperrguts“ zu. Ästhetische Wirkungen, so Mollenhauer, sind „Sperrgut in einem Projekt von Pädagogik, das seine Fluchtpunkte in klaren Verstandesbegriffen und zuverlässigen ethischen Handlungsorientierungen sucht“. Und weiter kommt er zu der Folgerung, dass dieses Sperrgut, um in die „pädagogische Kiste“ zu passen, der Zerstückelung bedürfe.
Das Projekt stellt sich diesem Spannungsverhältnis von pädagogischer Anleitung hier und individueller Gestaltungsarbeit dort, indem die beiden Verantwortlichen lediglich eine thematische Rahmung vorgeben, um dann in einen ergebnisoffenen Prozess einzusteigen. Eine solche Rahmung für die Klangforschung kann z.B. für eine Grundschulklasse lauten: „Findet befreundete Klänge.“ – eine Vorgabe, die Suchprozesse auslöst. Die Kinder erproben die Alltagsgegenstände nicht nur daraufhin, welche Klänge sich mit ihnen erzeugen lassen, sondern die KLänge werden zugleich auf ihre Klangqualität hin „ausgehört“. Die gefundenen Klänge müssen solange geübt werden, bis sie sicher reproduzierbar sind, damit diese schließlich strukturbildend für das eigene Stück werden können.

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